Ayleens Weg in ein aufrechtes Leben: Mit Technologie und Mut gegen Barrieren kämpfen
Die querschnittgelähmte Marburgerin kann dank besonderer Hightech-Orthesen wieder gehen und die Welt bereisen. Heute gibt sie ihre Erfahrungen an Betroffene weiter – und kämpft gegen Tabus und für mehr Aufklärung.

Donnerstag, 15. August 2024
Ayleen(29) ist durch eine chronische Wirbelsäulenerkrankung an beiden Beinen seit 2020 querschnittgelähmt.
Ihre besondere Mission: Sie setzt sich als Speakerin für die Repräsentation, Inklusion, Enttabuisierung und das Empowerment von Menschen mit Behinderungen ein – sei es in Bezug auf Herausforderungen mit Querschnittlähmung oder blinde Flecken in der medizinischen Versorgung
Auch als ehrenamtliche Sterbebegleiterin im Kinder- und Jugendhospizdienst macht sie sich für andere stark.
Die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin hat sich für ihre eigene Versorgung stark gemacht: Heute trägt sie die C-Brace Orthese an beiden Beinen und nutzt den Elektroden-Anzug Exopulse Mollii Suit gegen Spastiken - und nur noch selten ergänzend den Rollstuhl.
Ihr Hilfsmittelmix gibt Ayleen die Möglichkeit, wieder die Welt zu bereisen und in der Natur zu sein – an Orte, die nicht barrierefrei sind und ihr lange verwehrt waren.
Ayleen W. aus Marburg lebt mit verschiedenen chronischen Erkrankungen, wovon auch ihre Wirbelsäule betroffen ist. Schon seit dem frühen Kindesalter war sie viel im Krankenhaus. Immer wieder steht zeitweise ihr Überleben auf der Kippe. Doch die heute 29-Jährige lernt mit ihren Krankheiten zu leben: Sie reist, studiert im Ausland, arbeitet als Schwimmtrainerin, engagiert sich ehrenamtlich und lässt sich zur Sterbe- und Trauerbegleitung im Kinder- und Jugendhospiz ausbilden. „Ich wusste, wenn mein Rücken so weit okay ist und ich zurechtkomme, dann will ich alles erleben, was ich erleben kann“, erinnert sie sich zurück. Dann verschlimmert sich 2020 ihre Erkrankung und lässt ihre Welt von jetzt auf gleich ganz klein werden: „Ich war Mitte 20, alles hat stabil gewirkt und ist plötzlich weggebrochen.“
Zwischen Reha-Bett und Rollstuhl
Querschnittlähmung lautet Ayleens Befund. Damit ist sie eine von über 140.000 Personen in Deutschland, die ein oder beide Beine kaum bis gar nicht bewegen können.(1) „Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte die maximale Selbstständigkeit erreicht und brauchte plötzlich Hilfe, etwa beim Duschen und beim Umsetzen von der Toilette in den Rollstuhl. Ich dachte, dass ich in der Reha alle Informationen bekommen würde, die ich brauche”, berichtet Ayleen. „Aber so kann man sich täuschen.“
Mehrere Wochen wartet sie auf einen Rollstuhl. Als sie eine andere Patientin in der Reha-Klinik mit Beinorthesen sieht, fragt sie nach, ob solche Hilfsmittel für sie ebenfalls in Frage kämen. Aber ihre Frage nach einer Rehabilitation mit Orthesen wird abgetan. Sie solle sich erst einmal an den Rollstuhl gewöhnen, in drei bis fünf Jahren könne man über Orthesen nachdenken. Statt ärztlicher Unterstützung bei der Orthesenversorgung wurde ihr vielmehr psychologische Betreuung angeraten und klar gemacht, dass sie der Realität ins Auge blicken müsse: Chancen auf Orthesen seien Träumereien.
„Das ist komplett der falsche Ansatz. Je mehr Zeit verloren geht bis zu der passenden Versorgung, desto unwahrscheinlicher wird es, dass diese erfolgreich abläuft“, erklärt Ayleen, die inzwischen jede Menge Expertenwissen für ihre Erkrankung gesammelt hat. Alexander Hardt, Marktmanager NeuroMobility bei Ottobock, bestätigt ihre Erfahrung: „Etwa die Hälfte der Menschen mit einer inkompletten Querschnittlähmung wird mit dem Rollstuhl versorgt, obwohl sie mit passenden Orthesen mobiler wären.“
Ayleens langer Weg zur Mobilität mit dem C-Brace
Nach der Reha lässt die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin nicht locker, sie recherchiert so lange im Internet, bis sie die Informationen bekommt, die sie so dringend braucht. Sie vereinbart einen Termin mit einem Orthopädietechniker von Ottobock in Göttingen, um die Hightech-Orthese C-Brace zu testen.
Die mikroprozessor-gesteuerte Kniegelenksorthese überwacht kontinuierlich den Beugungswinkel im Kniegelenk durch Sensoren, die alle 0,01 Sekunden den gesamten Gangzyklus erfassen. Im Gegensatz zu anderen Orthesen, die das Bein dauerhaft gestreckt halten und das Knie nur durch das Lösen eines Mechanismus abrupt beugen können, passt das C-Brace in Echtzeit die Streckung und Beugung an und ermöglicht so einen dynamischen Gangablauf.
„Unser Ziel ist es, Menschen mit Lähmungen in den Beinen mit dem C-Brace neue Mobilität und ein Stück Lebensqualität zurückzugeben. Dafür müssen Sanitätshäuser, Orthopädietechniker, Physiotherapeuten und Ärzte eng zusammenarbeiten – und natürlich auch die Betroffenen selbst“, sagt Alexander Hardt. „Außerdem führen wir kontinuierlich wissenschaftliche Studien durch, um die Wirksamkeit zu belegen und die Hilfsmittel entsprechend der Bedürfnisse ihrer Träger kontinuierlich zu verbessern. Studienergebnisse aus dem Jahr 2023 zeigen zum Beispiel, dass die Mikroprozessor-Technologie des C-Brace signifikant und klinisch bedeutsam zur Verbesserung des Gleichgewichts beiträgt und Stürze um bis zu 80 Prozent vermindert werden. Das ist gerade im Bewilligungsprozess für die Orthesen relevant.“
Ayleen beweist einen langen Atem beim Bewilligungsprozess: „Wir halten die Kompetenz von Ärzten sehr, sehr hoch in Deutschland. Wenn ein Arzt dann aber ein Hilfsmittel verordnet, wird das plötzlich von den Gutachtern und Gutachterinnen der Krankenkassen infrage gestellt.“
Schließlich wird Ayleen fast zwei Jahre später, im Januar 2023 dauerhaft mit dem C-Brace versorgt: Jeweils eine Orthese für jedes Bein bringen sie wieder auf die Füße – obwohl es schon fast zu spät war, weil sich ihre Muskulatur bereits zurückgebildet hatte. Für die junge Frau ein riesiger Fortschritt: Sie kann endlich wieder aufrecht gehen und ist nicht zu 100 Prozent auf den Rollstuhl angewiesen. Treppenstufen sind keine unüberwindbaren Alltagsbarrieren mehr und die Teilnahme am sozialen und gesellschaftlichen Leben ist weniger eingeschränkt.
Back to nature: Dschungel-Safari mit Querschnittlähmung
Das Beispiel von Ayleen zeigt: Chronische Erkrankungen und Behinderungen sind dynamisch. Sie selbst benutzt eine Kombination von Hilfsmitteln, um ihren Alltag zu bewältigen: So oft es geht trägt sie die Beinorthesen, weil sie so am mobilsten sein kann. Zusätzlich hilft ihr der Exopulse Mollii Suit, den sie nach ärztlicher Absprache alle 24 Stunden für eine Stunde trägt. Die leichte Stimulation durch 58 Elektroden beugt Spastiken vor und bringt weitere positive Nebeneffekte mit sich: Ayleen kann zum Beispiel wieder entspannter schlafen, Tabletten absetzen und ihre Darmfunktion hat sich verbessert. Und wenn sie im Alltag eine Erholungspause braucht, weicht sie auf den Rollstuhl aus. Dieser Mix ist auf sie und ihre Bedürfnisse abgestimmt – und gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Ebenso dynamisch werden die Hilfsmittel stetig weiterentwickelt, berichtet Alexander Hardt: „Beispielsweise wurde das zusätzliche Kniegelenk zur Führung des C-Brace für Patienten bis 110 kg von der innenliegenden Seite am Bein (medial) nach außen (lateral) verlegt. So können Menschen mit beidseitiger Versorgung wie Ayleen die Orthesen besser tragen.“
Ayleens bisheriges Highlight: Eine mehrwöchige Indienreise. Mit dem C-Brace war sogar eine Safari mitten durch den Dschungel möglich, dicht vorbei an Elefantenfamilien und mit einer Flussüberquerung per Floß. Im Rollstuhl wäre diese Reise undenkbar gewesen. „Das war ein kleiner Mutausbruch. Gerade diese Erlebnisse in der Natur sind etwas ganz Besonderes. Denn Natur ist natürlich gar nicht barrierefrei, vor allem in Europa oder eben Indien nicht. In den USA sieht man öfter für den Rollstuhl ausgebaute Trails. Aber mit dem C-Brace steht so ein großer Teil der Welt einfach wieder offen für mich.“ Als nächstes auf ihrer Bucketlist stehen Vietnam, Kambodscha oder Südafrika, um Menschen und Natur zu erleben und kennenzulernen.
Diskriminierung am Arbeitsplatz: Wie Ayleen Barrieren abbaut und Mut macht
Auch beruflich gab es für die damalige Datenanalystin in einer IT-Firma unerwartete Hürden, etwa die Verweigerung, ihr mehr Arbeitstage im Home Office zu gewähren – obwohl sie zu der Zeit ausschließlich im Rollstuhl mobil und ihr Arbeitsplatz durch Treppenstufen unerreichbar war. Etwas, das bei Ayleen – zusätzlich zur Diskriminierung – auf Unverständnis stößt: „Viele Berufe können wir von Zuhause ausführen und trotzdem sieht man keinen signifikanten Anstieg der Arbeitnehmeranteile von schwerbehinderten Personen. Da hat sich leider gar nicht viel getan, obwohl das häusliche Umfeld der barrierefreieste Bereich ist, den eine behinderte Person in der Regel hat.“ Gerade in Zeiten eines historischen Fachkräftemangels werde hier Potenzial und Arbeitskraft aufgrund von Vorurteilen, Unsicherheiten und Stigmatisierung verschenkt.(2)
Heute setzt sich Ayleen als Speakerin und über Social Media dafür ein, diese Informationslücke zu schließen. Sie geht in Kliniken, zu Community-Treffen, spricht mit Betroffenen über Symptommanagement und Antragsstellung und leitet Workshops zur Sensibilisierung im Umgang mit Patientinnen und Patienten. Ihre Ziele bei der Aufklärungsarbeit: Brücken bauen, Mut spenden, das Thema aus der Tabu-Zone holen, damit Menschen mit Behinderung inkludiert und nicht diskriminiert werden.
Strukturwandel beginnt mit Dialog
Für die Zukunft wünscht sich Ayleen vor allem strukturelle Veränderungen. In ihren Augen muss der Prozess zur Hilfsmittelversorgung verkürzt werden, damit Menschen rechtzeitig die individuell passenden Produkte und die zugehörige Physiotherapie für den Umgang damit erhalten. Damit einher geht auch der Wunsch nach mehr Akzeptanz für die Bedürfnisse und Situationen von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen. Und das schließt auch den Abbau von Barrieren auf dem Arbeitsmarkt ein. „Diesen vielen Unsicherheiten und Ängsten kann man nur entgegensteuern, wenn man aktiv in den Austausch geht und miteinander ins Gespräch kommt“, findet Ayleen.
Überblick: C-Brace® von Ottobock
weltweit erste, computergesteuerte Beinorthese mit intelligenter Sensorik im Kniegelenk
individuell gefertigtes Oberschenkel-, Unterschenkel- und Fußteil
für Menschen mit Lähmungserscheinungen in den Beinen bis hin zu einer inkompletten Querschnittslähmung
dynamische Kontrolle des gesamten Gangzyklus dank SSCO®-Technologie (Stance and Swing Phase Control Orthesis, dt. Stand- und Schwungphasenkontrollierte Orthese) in Echtzeit
ermöglicht natürlichere und kontrollierte Bewegungsabläufe beim Gehen, Hinsetzen und Treppensteigen und erweitert den Bewegungsspielraum
unebener Boden, Schrägen und Treppen sind überwindbar
erfordert weniger Ausgleichbewegungen und weniger körperliche Kraft – Folgeschäden werden reduziert
unauffällig zu tragen – auch unter der Kleidung
leistungsstarker Akku hält in geladenem Zustand den ganzen Tag
benutzerdefinierter Modus, z. B. zum Radfahren, per Smartphone App einstellbar
Quellen