NeuroMobility Symposium: „Wir können das Thema Spastik nur interdisziplinär meistern.“
Donnerstag, 23. November 2023
Mitte November fand das zweite NeuroMobility Symposium in Berlin unter dem Motto Neurologische Herausforderungen gemeinsam meistern statt.
Auf Einladung von Ottobock und unter wissenschaftlicher Leitung von Dr. Jennifer Ernst diskutierten ExpertInnen aus Medizin, Orthopädietechnik und Physiotherapie sowie zwei Betroffene das Thema Spastikmanagement durch Neuromodulation.
Durch den interdisziplinären Austausch soll für Versorgungsbrüche sensibilisiert, neue Potenziale erkannt und die Situation von PatientInnen mit spastischer Parese durch Multiple Sklerose, Zerebralparese oder Schlaganfall verbessert werden.
Am 15. und 16. November veranstaltete Ottobock das zweite NeuroMobility Symposium in Berlin unter dem Motto Neurologische Herausforderungen gemeinsam meistern. Wissenschaftlich geleitet wurde das Event von Dr. Jennifer Ernst, Chirurgin und Oberärztin an der medizinischen Hochschule Hannover. Mit ihr waren AnwenderInnen, ÄrztInnen, PhysiotherapeutInnen sowie Orthopädietechniker auf dem Podium versammelt und beleuchteten Hindernisse und Potenziale des Spastikmanagements durch Neuromodulation aus verschiedenen Perspektiven. „Wir können das Thema Spastik nur interdisziplinär meistern“, erläuterte Dr. Ernst.
Die Gegenwart der Neuromodulation: Eine Bestandsaufnahme der Versorgungslage
Dr. Jennifer Ernst steckte zu Beginn mit Neuromodulation: wissenschaftliche Grundlage den Rahmen des Symposiums ab. „Die Sprache unserer Nerven ist ein elektrisches Signal – das macht die Neuromodulation zu einem sinnvollen, nebenwirkungsarmen Instrument, wenn die Elektrik des Muskels durch eine Spastik in Unordnung geraten ist“, so Dr. Ernst. „Aber wir brauchen nicht nur eine klinische Objektivierung, sondern auch eine funktionelle.“
Dr. Andreas Hahn, Corporate Vice President Clinical Research & Services bei Ottobock, führte dies weiter und richtete den Fokus auf Bewegungsdefizite durch Infantile Cerebralparese, Multiple Sklerose oder Schlaganfall. Erste breite Studien sowie Anwendungsbeobachtungen zeigten beispielsweise anhand der Berg Balance Scale ein verringertes Sturzrisiko, weniger Schmerzen und eine verbesserte Lebensqualität durch den Neuromodulationsanzug Exopulse Mollii Suit – sowohl kurz- als auch langfristig. „Aber wir müssen uns immer von Neuem fragen: Wie schauen wir wo mit welchen Instrumenten hin? Es geht nicht nur um möglichst schnelle Tests, sondern sinnvolle funktionelle Objektivierungen“, erinnerte Dr. Hahn.
Prof. Dr. Bernd Brüggenjürgen, Leiter des Instituts für Versorgungsforschung und technische Orthopädie an der MHH Hannover/Diakovere Annastift, konzentrierte sich mit seinem Vortrag Versorgungsforschung und spastische Bewegungsstörungen auf die Fragen: Wie kommt die Technologie zu den PatientInnen und wie können Versorgungsbrüche bewältigt werden? Dr.Brüggenjürgen plädierte: „Wir brauchen vor allem eine Integration der Patientenbedürfnisse und eine integrierte, regionale Vor-Ort-Versorgung - keine Silo-Versorgung. So können wir sinnvolle Übergänge zwischen den Versorgungbereichen schaffen, anstatt bloße Schnittstellen zu managen.“
Dr. Dörthe Lison und Dr. Andreas Lison vom Zentrum für Sportmedizin der Bundeswehr betrachten in ihrem Beitrag Spastikmanagement in der Rehabilitation – ein interprofessioneller Prozess, was sich hinter den Begriffen Behinderung und Rehabilitation verbirgt und wie sich das auf die Maßnahmenfindung auswirkt: „Rehabilitation ist Arbeit im interdisziplinären Team und das meint vor allen: mit dem Patienten zusammen. Nur wenn Teilhabestörungen – einem modernen Behinderungsbegriff folgend – umfassend erkannt werden, können Barrieren überwunden und Behinderung vermieden werden.“
Die Physiotherapeutin Renata Horst, spezialisiert in Orthopädischer Manueller Therapie, Neurologischer Rehabilitation und Motorischem Lernen, hielt einen Vortrag über Neuromodulation – Leitlinien in der Physiotherapie. Darin zeigte sie mit verschiedenen Fallbeispielen auf, inwiefern motorisches Lernen den Behandlungserfolg beeinflusst, und warum der Begriff Spastische Parese genauer ist als Spastizität. Ziel der jeweiligen Rehabilitationstherapie sollte sein, PatientInnen mit entsprechendem Input zum Handeln zu befähigen, anstatt sie lediglich zu behandeln.
Sina Wiedemeier und Kerstin Rathgeb brachten in der Diskussionsrunde Spastikmanagement im Alltag die Perspektiven von Patientinnen ein, die die Neurostimulation mit Hilfe des Exopulse Mollii Suit aktiv nutzen. Aus ihren Erfahrungen wird die lebensverändernde Wirkung des weltweit einzigartigen Anzugs deutlich:
Kerstin Rathgeb erhielt vor 25 Jahren als sie 17 Jahre alt war die Diagnose Multiple Sklerose. Die zweifache Mutter stand kurz vor dem Pflegegrad 5, als sie über Instagram auf den Exopulse Mollii Suit aufmerksam wurde. „Mein Leben war geprägt von Stürzen, Stürzen, Stürzen. Ich hatte den ganzen Tag Schmerzen und dazu absolute Schlaflosigkeit. Das war zermürbend“, berichtet die gelernte Erzieherin. „Der Anzug hat mein Leben gerettet.“ Seit sie den Anzug nutzt – anfangs täglich, inzwischen alle zwei bis drei Tage abends – habe Kerstin Rathgeb keine Schmerzen und keine schlaflosen Nächte mehr, sie könne wieder am Leben teilnehmen. Auch ihre Medikation konnte sie fast komplett reduzieren. Ihr Ziel für die Zukunft: Noch selbstständiger werden, um weniger von der Hilfe anderer abhängig zu sein.
Sina Wiedemeier ist durch einen Sportunfall inkomplett querschnittgelähmt und auf eine Kombination aus Hilfsmitteln angewiesen, um gehen und ihren Alltag bewältigen zu können. Auch die junge Lehrerin musste diverse Medikamente einnehmen, die sie benommen und schläfrig gemacht haben. Auf einer Messe hat sie durch eine plötzlich auftretende Spastik zufällig den Erfinder des Exopulse Mollii Suit – Fredrik Lundqvist – getreten. Sie kamen ins Gespräch und Sina Wiedemeier konnte den Anzug noch am selben Abend testen. Seither habe sie damit ein Hilfsmittel, durch das sie mit den Spastiken umgehen kann, weniger Schmerzen, weniger schlaflose Nächte, müsse weniger Medikamente einnehmen und könne weitere Strecken sicher bewältigen. „Ich habe jetzt die volle Kapazität, um für meine Grundschüler da zu sein. Das war vorher nicht denkbar“, fasst Sina Wiedemeier zusammen.
Dr. Jürgen Kohler, Niedergelassener Neurologe im Neuro- und Physiozentrum Zollhalle in Freiburg im Breisgau, berichtete in seinem Vortrag Spastikmanagement: Einbindung der Neuromodulation am Beispiel Multiple Sklerose aus seinem Praxisalltag. Hindernisse entstünden seitens der Verordner und ÄrztInnen vor allem durch unzureichende Kenntnisse in Bezug auf orthetische Versorgungsmöglichkeiten, fehlende Kooperationen mit Sanitätshäusern und OrthopädietechnikerInnen. „Wir müssen Neurologen mit ins Boot holen und zudem Schwellenängste zwischen Medizin und Orthopädietechnik abbauen“, so Dr. Kohler.
Zum Abschluss gaben Günter Bieschinski, Orthopädietechniker, und Dennis Koch, Physiotherapeut, bei rahm (Zentrum für Gesundheit & Mobilität) in ihrem Beitrag Neuromodulation: Fallbeispiel aus der Orthopädietechnik einen Einblick in ein Screening mit dem Exopulse Mollii Suit. Verschiedene Fallbeispiele aus ihrem Arbeitsalltag verdeutlichten, wie PatientInnen den Neuromodulationsanzug nutzen und wie sie den Effekt der Elektrostimulation erfahren. „Der Exopulse Mollii Suit kann sich vor allem bei der Anwendung über einen längeren Zeitraum als sehr wirkungsvoll erweisen und ist gerade in der häuslichen Anwendung ein super Konzept als Ergänzung zur Therapie“, fasst Günter Bieschinski zusammen.
Fazit: Die Versorgungsgegenwart verbessern
Das interdisziplinäre Symposium hat verdeutlicht, welche Aspekte beim Spastikmanagement durch Neuromodulation wirklich relevant sind. „Es müssen sinnvolle Versorgungsübergänge zwischen Medizin, Orthopädietechnik, Therapeuten und Patienten geschaffen werden. Zudem bedarf es individueller Behandlungspläne, die Betroffene ganzheitlich betrachten und aktiv einbinden – und deren Ergebnisse auf funktionaler Ebene objektiviert und dokumentiert werden. Damit Therapien, Hilfsmittel und Technologien wie der Exopulse Mollii Suit dort ankommen und eingesetzt werden, wo sie gebraucht werden: Bei den Patientinnen und Patienten. Das alles ist ohne den fachübergreifenden Austausch nicht umsetzbar“, fasst Dr. Ernst den Tag zusammen.
Neue Zukunftsperspektiven für mehr Mobilität: Das Symposium war Teil des NeuroMobility-Konzepts von Ottobock für eine ganzheitliche Patientenversorgung. Dieser fachübergreifende Wissenstransfer ist neben der Innovation leistungsfähigerer Hilfsmittel der entscheidende Faktor zur Verbesserung von Mobilität und Lebensqualität hunderttausender Menschen – denn eine positive Entwicklung in der Patientenversorgung und ein aktives Leben für Betroffene von neurologischen Erkrankungen kann nur erreicht werden, wenn die Bedürfnisse der AnwenderInnen holistisch und lebensecht betrachtet werden.
Ein Video-Zusammenschnitt der Veranstaltung können Sie sich über diesen Link ansehen. Ab Anfang Dezember 2023 sind die Mitschnitte der einzelnen Vorträge über diesen Link verfügbar.