Der Himmel hat keine Grenzen: Ein Fallschirmspringer mit smarter Prothese ist wieder in der Luft
Ein Unfall verändert Jörgs Leben – heute bringt er mit Para-Skydiving Bewegung in den inklusiven Sport

Freitag, 16. Mai 2025
Ein folgenschwerer Fehler kostet Jörg Schmidtke (42) aus der Nähe von Hamburg im Mai 2017 beim Fallschirmspringen fast das Leben: Seine Familie bangt, als der damals 34-Jährige mehrere Wochen im Koma liegt und sein linker Unterschenkel aufgrund von Durchblutungsstörungen amputiert werden muss.
Doch der Sportfan und IT-Consultant erobert nach einem Sturz aus 30 m Höhe Stück für Stück seinen Alltag - und den Himmel - zurück.
In seiner Freizeit ist Jörg nicht nur im Windtunnel beim Indoor Para Skydiving zu finden, sondern setzt sich für mehr Inklusion im Sport ein und leistet im Verein mit dem Projekt „Para-TAKEOFF“ Pionierarbeit.
Die smarte Hightech-Prothese unterstützt Jörg permanent beim Gehen, wodurch er weniger Energie aufwenden muss. Seine Lieblings-Features: Der Support beim Treppensteigen und die Stand-to-walk- und Walk-to-run-Funktionen – so kann er spontan den Bus erwischen oder langsam vor einem Konzert die Warteschlange mitgehen.
Zwischen Himmel und Horizont: Wie Jörg Fallschirmspringer wird
Jörg Schmidtkes zweites Kinderzimmer ist der Flugplatz: Sein Vater arbeitete dort als Mechaniker und Co-Pilot in der DDR. Bereits seit seiner Kindheit genießt der Norderstedter die Zeit in der Luft und möchte Pilot werden. Es entwickelt sich eine große Liebe – die Liebe, weit weg vom Alltag zu sein, zum Gefühl von Freiheit und Ruhe um ihn herum. Mit 21 Jahren kommt Jörg zum Fallschirmspringen, mit 28 ist er bei jeder sich bietenden Gelegenheit in der Luft. Der Sport wird für ihn mehr als ein Hobby, sondern eine Lebenseinstellung, berichtet Jörg: „Diese Bilder und Momente bekommt man nicht mehr aus dem Kopf. Das ist unbeschreiblich und nur schwer nachvollziehbar, wenn man nicht auch mal am Schirm gehangen hat. Es ist ein unfassbares Freiheits- und Glücksgefühl, draußen in der Luft zu sein.”
Als Erwachsener hat der IT-Consultant und Sportfan die notwendige Ausbildung durchlaufen, bringt jahrelange Erfahrung mit auf das Rollfeld und fühlt sich sicher, wenn er fast jedes freie Wochenende Fallschirmspringen geht und sich auf die Deutschen Meisterschaften vorbereitet. Im Winter feilt er im Windtunnel beim Indoor Skydiving an seiner Technik. In der Zwischenzeit hält er sich mit CrossFit, Fahrradfahren und Schwimmen fit. Die Bilanz: Bis 2017 springt er rund 1.400 Mal aus 4.000 m Höhe. Den Ablauf kennt er im Schlaf und er baut selbst das Gurtzeug um.
Ein Moment, der alles verändert
Doch im Mai 2017 ändert sich alles: Jörg tauscht seine Ausrüstung, baut Teile um. Es sind Änderungen, die er nicht noch einmal im 4-Augen-Check von seinem Fallschirmwart prüfen lässt, weil die beiden sich verpassen.Die ersten zwanzig Sprünge gehen am kommenden Wochenende gut. Doch beim nächsten löst sich eine der selbstgebauten Verbindungen und der Fallschirm faltet sich kurz vor der Landung vom Viereck zum Dreieck: Jörg stürzt aus 30 m Höhe ab.
Ein Rettungshubschrauber bringt den damals 34-Jährigen in die Universitätsklinik Rostock. Er fällt ins Koma. Zahlreiche Organe sind geschädigt, die Durchblutung gestört. Nach dreieinhalb Wochen und zahlreichen Operationen stabilisiert sich Jörgs Zustand glücklicherweise und er wacht auf, allerdings ohne eine Erinnerung, was mit ihm passiert ist. Er merkt schnell: Ein Bein ist kürzer und irgendwie leichter. Seine Eltern mussten die lebensrettende Entscheidung treffen, dass sein linkes Bein oberhalb des Knies amputiert wird.
Wie Jörg den Weg zurück in ein selbstständiges Leben findet
An die erste Zeit auch nach dem Unfall erinnert sich Jörg nur bruchstückhaft. Ein Intensivmediziner sagt ihm später: „Dein Fitnesslevel und dein Optimismus waren entscheidend.“ Denn die psychische Belastung ist beinahe stärker als die physische: Er muss die Amputation akzeptieren und lernen, mit seinen Schuldgefühlen umzugehen. „Wie geht es jetzt weiter? Wie will ich leben? Was mache ich in Zukunft?“ Das sind existenzielle Fragen, die sich Jörg in dieser Zeit stellt.
Sein Krankenhaus- und Reha-Alltag besteht vor allem darin, sich in der neuen Situation zurecht zu finden und wieder zurück auf die Beine zu kommen. „Ich möchte wieder alles machen, was geht“, setzt sich Jörg als Ziel und schöpft aus diesem Willen – und der Unterstützung von Familie, Freund*innen und Kolleg*innen – jede Menge Kraft. Schon in der Früh-Reha baut er sich wieder eine eigene Routine auf und knüpft an sein Leben vor dem Unfall an: Mit zwei Stunden die Woche steigt er nach ärztlicher Absprache und als Teil der Reha wieder frühzeitig in seinen Job als IT-Consultant ein.
„Ich kann laufen, als hätte ich keine Prothese“
Bereits auf der Intensivstation erhält Jörg seine erste mechanische Interims-Prothese, die ihn genau ein Jahr begleitet. Aber der Schaft sitzt nicht richtig. Das erschwert das Laufen für ihn enorm, er bekommt Druckstellen und Blasen. Im Austausch mit anderen Amputierten erfährt Jörg, wie wichtig der passende Orthopädietechniker oder Orthopädietechnikerin an seiner Seite ist. Beim Testlaufen mit verschiedenen Prothesen fühlt er sich mit dem mechatronischen Kniegelenk Genium von Ottobock am sichersten; zumal er durch seine Verletzungen am Bauch Stürze auf jeden Fall vermeiden soll. Sechs Jahre lang trägt ihn der künstliche Beinersatz durchs Leben und begleitet ihn dabei, sich seinen Alltag zurückzuerobern. „Ein echter Game-Changer“, erinnert er sich zurück.
Seit beinahe einem Jahr trägt Jörg nun das die neueste Generation des smarten Kniegelenks – das Genium X4. Vor allem in Momenten, die für Menschen ohne Behinderungen selbstverständlich sind, bemerkt er die Vorteile. „Du läufst das X4 zehn Minuten und du willst nie wieder etwas anderes“, beschreibt er das Gefühl. „Ich habe generell wieder Spaß am Gehen und kann Laufen, als hätte ich keine Prothese. Die Treppensteig-Funktion für optimiertes Aufwärtsgehen hilft mir zum Beispiel, bei Bahnhofstreppen viel mehr Kraft zu sparen. Und mit der Stand-to-Walk-Funktion kann ich in Konzert- oder Einkaufsschlangen auch kleine, präzise Schritte vorwärtsgehen, ohne jemanden mit einer ausholenden Bewegung zu treten. Mit dem Genium X4 muss man viel weniger nachdenken“, sagt Jörg über seine Lieblings-Features.
Insgesamt läuft er sicherer und komfortabler. Praktisch ist für ihn auch das Ladegerät mit herkömmlichem USB-Kabel sowie die lange Akkulaufzeit. Und beinahe ebenso wichtig: Seine Prothese sieht „cool“ aus. Jörg hat sich für ein schwarzes Cover entschieden, „Cyborg-mäßig as possible“, wie er sagt. Im Sommer trägt er auch kurze Hosen und zeigt die Prothese offen, aber den wenigsten Leuten fällt sie überhaupt auf – am ehesten bemerken Kinder, dass er beinamputiert ist und reagieren neugierig.
„Technik soll uns im Alltag sinnvoll unterstützen. Genau das ist auch das Ziel des Genium X4. Mit Innovation und Nutzerfreundlichkeit haben wir eine Prothese geschaffen, die sich dem Alltag anpasst und Menschen mit Amputation da unterstützt, wo sie sonst an ihre Grenzen stoßen. Mit unseren Prothesen verhelfen wir den Anwenderinnen und Anwendern nicht nur zu mehr Mobilität, sondern fördern auch ihre Unabhängigkeit und Lebensqualität”, sagt David Wucherpfennig, Marktmanager aus dem Bereich Prothetik bei Ottobock.
Vorreiterrolle: Indoor Para Skydiving als inklusiver Sport
„Ich habe lebenstechnisch keine Einschränkungen“, sagt Jörg heute, acht Jahre nach dem Unfall. Auch das Fliegen hat er sich zunächst durch Indoor-Skydiving zurückerobert. „Ich suche nach Lösungen und hänge nicht an Problemen“, ist seine Devise. Schon vor dem Unfall nutzte er die Indoor-Option als Trainingsmöglichkeit für mehr Präzision und neue Moves. 2019 ging es dann zum ersten Test zurück in den Windkanal – etwas, wonach er sich lange gesehnt hat. Und auch außerhalb des Kanals nimmt der Sport nach wie vor einen wichtigen Stellenwert in seinem Leben ein.
Im vereinseigenen Inklusions-Projekt „Para-TAKEOFF“ engagiert sich Jörg ehrenamtlich und beteiligt sich an der Organisation von inklusiven Indoor-Skydiving-Events. So können Menschen mit Behinderung – von Amputation über Spastik bis hin zur Querschnittlähmung – im Luftstrom unter Aufsicht und Begleitung fliegen. „Im Windkanal zu sein ist für Betroffene wie im Wasser zu treiben oder zu schwimmen. Man muss nicht mehr über seine Behinderung nachdenken. Die Begeisterung ist wirklich spürbar, Menschen vergessen ihre Sorgen und wir machen ihnen eine Freude damit“, sagt Jörg über sein Engagement. „Egal, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht – jeder kann fliegen.“
Das Projekt mit dem Ziel für mehr Inklusion im Sport leistet echte Pionierarbeit. So ist in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Fallschirmsportverband (DFV) innerhalb von weniger als drei Jahren eine neue – und inzwischen internationale – Wettkampf-Disziplin entstanden: das Indoor Para Skydiving (IPS). Dabei treten Sportler*innen mit Behinderung gegeneinander an, mit dem Ziel schnellstmöglich einen Parcours im Windkanal abzufliegen. Im Vorfeld wird anhand des Behinderungsgrads ein Koeffizient zur Punktevergabe und Vergleichbarkeit festgelegt.
Darüber hinaus schult das Projekt in Zusammenarbeit mit Windkanälen deutschlandweit Instruktor*innen, um mehr Menschen mit Behinderung das Indoor-Skydiving zu ermöglichen und gleichzeitig ihre Sicherheit zu gewährleisten. Aktuell gibt es in Berlin und München ca. zehn ausgebildete Kräfte, die den Para-Sport barrierefrei und inklusiv ermöglichen.
„Ich wünsche mir, dass wir irgendwann Indoor-Skydiving auf Rezept anbieten können“, sagt Jörg, „Das ist wie eine Mini-Therapie und gibt den Menschen Selbstvertrauen. Und Leute mit Behinderung sollen möglichst kostengünstig oder im Idealfall kostenfrei fliegen, weil die Behinderung an sich schon so hohe Kosten mit sich bringt.“
Jörgs Wünsche für die Zukunft
Menschen in ähnlichen Situationen rät Jörg vor allem, sich Hilfe zu suchen – bei Fachleuten, bei Menschen, die dieselbe Behinderung haben, bei Freund*innen und Familie. So stellt man die Weichen für eine bestmögliche Versorgung und kann wieder Spaß am Leben haben. „Auch wenn der Weg langwierig ist und die Lösung anders als gedacht, am Ende gibt es immer eine“, sagt Jörg abschließend.
Für sich selbst wünscht er sich, einmal in einer Outdoor-Großformation beim Fallschirmspringen mitzufliegen. Und bei der Meisterschaft im Indoor-Skydiving möchte er als Behinderter in einer Nicht-Behinderten-Disziplin starten.
Auch wenn Jörg mehr als einmal die Grenzen des Machbaren verschoben hat, hat ihn sein Unfall gelehrt, auf die eigenen Belastungsgrenzen zu achten und das Leben mit seinen Lieben zu genießen. Genau dieses Gefühl begleitet ihm beim nächsten Sprung – ob aus zig Metern Höhe oder im Windkanal.
Überblick: Genium X4 von Ottobock
mikroprozessorgesteuertes Prothesenkniegelenk mit intelligenter Sensorik
ermöglicht optimiertes physiologisches Gehen (OPG 3.0) für ein flüssiges Ganggefühl
unebener Boden, Schrägen und Treppen sind mit größtmöglicher Unterstützung überwindbar
Start-to-Walk Funktion ermöglicht das einfache Auslösen des ersten Schrittes mit der Prothesenseite
dynamisches Rückwärtsgehen sorgt für eine sicheren Rückwärtsschritt
erfordert weniger Ausgleichbewegungen und weniger körperliche Kraft – Folgeschäden werden reduziert
Mit der connectgo.pro App können Orthopädietechniker*innen die Prothese feinjustieren und den individuellen Gang bestmöglich unterstützen
wasserfest (IP68) und korrosionsbeständig
lange Akkulaufzeit von bis zu fünf Tagen und Schnellladefunktion
MyModes ermöglichen den AnwenderInnen via App die individuelle Anpassung an Arbeit, Freizeit, Sport und mehr für den personalisierten alltäglichen Gebrauch
Individuelle optische Gestaltung durch Besprühen und Bekleben von Protektoren möglich
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