40.000 Schritte täglich mit Beinprothese: Polizei-Pferdewirtin Siglind ist ständig auf Trab
Nach einer Beinamputation findet Siglind zurück in ihren Traumberuf. Immer dabei: Ihre besondere Hightech-Prothese für den anspruchsvollen Arbeitsalltag bei der Polizeireiterstaffel.
Dienstag, 17. September 2024
Siglind K.(46) führt ein aktives Leben, arbeitet als passionierte Pferdewirtin und ist angehende Amateur-Jockey, bis sie durch einen Unfall mit 21 Jahren ihr rechtes Bein ab dem Kniegelenk verliert – und damit (vorerst) auch ihren Lebenstraum.
Ein ehemaliges Rennpferd mit Hufbeinbruch gibt ihr von da an einen Lebenssinn und motiviert sie, weiterzumachen. „Das Pferd war mein Therapeut“, sagt Siglind heute.
Auswandern, um weiter mit Pferden arbeiten zu dürfen: Die Pferde- und Sportliebhaberin geht nach Südafrika um als Therapeutische Reitlehrerin für Menschen mit Behinderung zu arbeiten und wird dort Para-Ruderin auf Paralympics-Niveau.
Rückkehr in den Traumberuf: Siglind kehrt 2008 nach Deutschland zurück. Als sich die Klassifizierung zum Rudern im deutschen Nationalteam ändert, muss sie umdenken. 2010 wird sie nach einer Initiativbewerbung bei der Polizeireitstaffel in Hannover als Pferdewirtin angenommen.
Keine Extrabehandlung: Die anfängliche Skepsis von KollegInnen legt sich schnell. Besonders wichtig für Siglind: Sie wird genau wie alle anderen und wie eine Nichtbehinderte behandelt.
Täglich auf den Beinen, Schichtdienst, bei Wind und Regen draußen: Den körperlich anstrengenden Arbeitsalltag bewältigt Siglind dank ihres wasserfesten, mikroprozessorgesteuerten Prothesenkniegelenks aus der Genium-Familie.
Nach der Amputation: „Mein Pferd war mein Therapeut“
Schon seit ihrer Kindheit liebt Siglind (46) Pferde und weiß, sie möchte später beruflich mit den Tieren arbeiten. Als sie ihre Ausbildung zur Pferdewirtin abschließt, hat sie ihren Traumberuf gefunden. Das nächste Ziel: Ein Amateurjockey-Schein. Doch durch einen fremdverschuldeten Unfall im Jahr 2000 verliert sie ihr rechtes Bein, was ihr Leben komplett verändert. „Dann war er aus, der Traum, also nicht nur Jockey, sondern eben auch Pferdewirtin“, erinnert sich Siglind zurück.
Schon im Krankenhaus fängt sie an, mit Hanteln zu trainieren. „Mein Ziel war, ich möchte hier ganz schnell raus und wieder sauber laufen. Das lief dann Step by Step.“ Auch ihren Stumpf hat sie direkt offen gezeigt. „Damit ich selbst auch verstehe und akzeptiere Das ist jetzt so“, erzählt sie. „Der Unfall hat mich natürlich verändert. Ich nehme manches nicht so ernst und wertschätze die kleinen Dinge im Leben. Alles ist intensiver.“
Trotzdem war die Genesung eine Herausforderung für Siglind. Sie fällt mental erstmal in ein Loch. Als sie die Reha verlässt, schenkt ihr ihr damaliger Freund ein ehemaliges Rennpferd, das durch einen Hufbeinbruch nicht mehr laufen konnte. „Das war mein Therapeut. Ich musste jeden Tag hin, mich kümmern, manchmal auch auf Krücken. Erst dachte ich: Was soll ich damit? Ich kann eh nicht mehr reiten. Aber dann hat sich gezeigt, dass es eben doch geht.“
Siglinds Zwischenstopps: Therapeutisches Reiten in Südafrika und Rudern auf Paralympics-Niveau
Ihre Arbeit als Pferdewirtin mit einem amputierten Kniegelenk, ist zu dem Zeitpunkt undenkbar in Deutschland. Doch Siglind lässt sich nicht unterkriegen: Sie merkt schnell, dass ihre Ausbildungsalternative als Kauffrau für Bürokommunikation nicht das Richtige für sie ist. Über FreundInnen erfährt sie, dass es in Südafrika auch mit Amputation und Prothese möglich ist, mit Pferden zu arbeiten. 2005 wandert sie dorthin aus. Sie verteilt Flyer und zeigt auf Turnieren, was sie kann – bis sie schließlich auf einer Farm anfängt, körperlich behinderte Kinder und Erwachsene mit therapeutischen Reitangeboten zu begleiten. „Ich bin da so reingerutscht. Aber ich hatte ein Händchen für die Arbeit, also haben sie mich machen lassen“, berichtet Siglind. „Die Arbeit hat mir ganz viel zurückgegeben. Man konnte sehen, wie die Menschen im Rollstuhl sitzen und ihren Körper dann auf dem Pferd wieder gerade aufrichten. Sie sind eins mit dem Pferd geworden, haben ganz anders kommuniziert und das war superschön mit anzusehen.“
In Südafrika entdeckt Siglind noch eine weitere Leidenschaft: das Rudern. Sie ist ein Naturtalent und steigt in die südafrikanische Nationalmannschaft für das Para-Rudern mit ein. Um an den Paralympics 2008 in Peking teilzunehmen, müsste sie die südafrikanische Nationalität annehmen. Ein Schritt, zu dem sie nicht bereit ist – und so geht es für Siglind zurück nach Deutschland ins dortige Nationalteam. Gemeinsam mit Harald Wimmer startet sie bei den Paralympics in Peking 2008 im Para Rudern Mixed Doppelzweier (Klasse TA) und kommt bis in Finale. Als sich die Klassifikation ändert und nur beidseitig amputierte Menschen in ihrer Bootsklasse rudern dürfen, muss der Sportfan erneut umdenken.
Back to work als Pferdewirtin
In ihrer Heimatstadt bemerkt Siglind beiläufig die PolizeireiterInnen unter ihrem Fenster entlangreiten. Ein entscheidender Moment. „Da hat es irgendwie Klick gemacht: Die brauchen auch Pferdewirte … und ich habe einfach eine Bewerbung hingeschickt.“ Ihre Initiative zahlt sich aus: Im Januar 2010 beginnt sie ihre Arbeit bei der Polizeireitstaffel in Hannover.
Anfangs schlägt ihr eine Mischung aus Skepsis und Interesse entgegen, gerade weil der Beruf körperlich anstrengend ist: Schichtdienst, viel gehen, schieben, tragen, ziehen – und so ein Pferd wiegt auch nicht wenig. Doch die Skepsis legt sich schnell und Siglind beweist, dass sie ihren KollegInnen trotz Prothese in nichts nachsteht. Wichtig für sie: Sie bekommt keine Extrabehandlung wegen ihrer Amputation und arbeitet genau wie eine Nichtbehinderte, auch wenn ihr Chef ein Auge darauf hat, dass sie nicht unbedingt eine Leiter steigt. Während der Arbeit trägt Siglind ihre Hightech-Prothese von Ottobock, von vier Uhr morgens bis 20 Uhr abends. 16 Stunden. Die anfängliche Skepsis legt sich schnell. Heute erkundigen sich die anderen Mitarbeitenden nach „Stumpi“, wie Siglinds Stumpf getauft wurde, wenn sich zum Beispiel wegen der Sommerhitze eine Blase gebildet hat und das Gehen belastet.
Siglind setzt alles daran, körperlich fit zu bleiben, geht regelmäßig ins Fitnessstudio, damit sie ihren Traumberuf am besten bis zur Rente ausüben kann. „Ich habe die Nische für mich gefunden: Diese Reiterstaffel ist mitten in der Stadt. Wir haben kurze Wege, alles ist zentral. Ich laufe natürlich trotzdem täglich 40.000 Schritte am Tag, aber mit längeren Pendelzeiten wäre das nicht machbar. Alles ist auf meine Behinderung abgestimmt.“
Dank Hightech-Prothese: Wie Siglind ihren Arbeitsalltag leichter meistert
Siglinds Möglichmacher ist die Beinprothese mit dem mechatronischen Kniegelenk aus der Genium-Familie. Jahrelang hat sie sich für eine Versorgung mit der smarten Beinprothese eingesetzt, mit der sie ihren Arbeitsalltag besser bewältigen kann: „Alles ist leichter. Das Stehen ist schon angenehm, der Rücken wird mehr entlastet, weil man nicht nur auf dem gesunden Bein steht. Im Gehen muss ich die Hüfte weniger anheben. Dadurch habe ich weniger Schmerzen und Verspannungen im Nacken, Rücken, Schultern, Hintern. Und auch Treppengehen ist einfacher.“ Im Vergleich zu ihrer vorigen Prothese findet Siglind das neue Genium X4 energiesparender: Ihr Bein ist nicht mehr konstant in der Streckung, sondern leicht gebeugt – wodurch sich die Fehlhaltungen und Folgeschäden verringern. „Ich bin nicht mehr so müde am Abend. Die Gelenke und mein ganzer Körper werden mehr geschont.“
Eine weitere Neuerung des Genium X4: Obwohl das Kniegelenk per Mikroprozessor-Technologie gesteuert wird, ist es komplett wasserbeständig. Das erste Mal nach 23 Jahren traut sich Siglind wieder mit den Füßen ins Meer zu gehen.
Weitere Vorteile sind die Start-to-Walk Funktion, mit der der erste Schritt auch mit Prothesenseite ausgelöst werden kann, dynamisches Rückwärtsgehen und das Überwinden von Unebenheiten und Schrägen werden erleichtert. All das sind Funktionen, die Siglinds Bewegungen durch den Arbeitsalltag sichtlich vereinfachen.
„Im Genium X4 stecken 25 Jahre Innovation und Erfahrung bei mikroprozessorgesteuerten Beinprothesen. Wir möchten, dass Menschen mit einem oder beiden amputierten Beinen sich bei jeder Bewegung im Alltag und darüber hinaus auf ihre Prothese verlassen können und bestmöglich unterstützt werden. Nur so erreichen wir ein höheres Maß an Teilhabe und Inklusion – und geben Menschen wie Siglind auch die Möglichkeit, wie jeder andere auch zu arbeiten und sich ein Leben nach ihren Vorstellungen aufzubauen“, erklärt David Wucherpfennig, Marktmanager für den Bereich Prothetik bei Ottobock.
Needed: Mehr Sportangebote für Menschen mit Behinderung
Für die Zukunft wünscht sich Siglind, dass es mehr Sportangebote für Menschen mit Amputation gibt. „Seit den Paralympischen Spielen in London 2012 hat sich schon ein bisschen was getan in der allgemeinen Wahrnehmung. Aber Sport kann so vielen Menschen helfen. Es bringt einen nach vorne, gerade, wenn man eingeschränkt ist. Mehr Kurse zum Reinschnuppern wären schön. Das finde ich ganz wichtig“, erklärt sie. Und eine eigene Sportprothese zu Testen steht auch ganz oben auf Siglinds Wunschliste. Einfach Prothese und Turnschuhe an und Losjoggen ist ein Traum von ihr, der sich auch aus Kostengründen (noch) nicht erfüllt hat.