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„Die Mustererkennung ist der Wechsel von der Gangschaltung zum hochmodernen Automatikgetriebe.“

Dr. Thomas Fuchsberger zur Myo Plus Mustererkennung von Ottobock

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Mittwoch, 20. März 2019

Seit 2017 ist Dr. Thomas Fuchsberger leitender Oberarzt und Stellvertreter des Chefarztes für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie, Handchirurgie am Klinikum Traunstein der Südostbayern Kliniken AG. Zuvor war er Oberarzt an der BG Klinik in Tübingen. In Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen und Ottobock versorgte er dort im Rahmen einer klinischen Studie erste Patienten mit der Myo Plus Prothesensteuerung.

Herr Dr. Fuchsberger, bei welcher Indikation und zu welchem Zeitpunkt wird die Myo Plus Prothesensteuerung mit Mustererkennung eingesetzt?

Die adaptive Steuerung Myo Plus kann Patienten mit einer ein- oder auch beidseitigen
Unterarmamputation dabei helfen, ihre Prothese intuitiv über ihre Gedanken zu steuern. Einen idealen Zeitpunkt, zu dem die Versorgung erfolgen sollte, gibt es bisher nicht. In unserer Studie haben wir vor allem Patienten versorgt, die bereits ein konventionelles System verwendeten. In Zukunft werden aber auch frisch amputierte Patienten initial mit der Myo Plus versorgt werden.

Und wie funktioniert die Technologie der Prothesensteuerung mit Mustererkennung?

Denkt ein Mensch an eine bestimmte Handbewegung oder einen Handgriff, sendet das Gehirn dazugehörige Nervensignale an die Muskulatur. Daraufhin führen die Muskeln die Bewegung oder den Handgriff aus. Nach einer Amputation ist die Hand und deren Funktion immer noch im Gehirn angelegt. Amputierte können sich weiterhin vorstellen, ihre Hand zu bewegen. Auch die Signale werden weitergesendet, jedoch fehlt das entsprechende Organ für die Umsetzung des Befehls. Mit Hilfe von acht Elektroden misst die Myo Plus Mustererkennung die eingehenden Signale am Unterarm und erkennt daraus Muster, die charakteristisch für einzelne Bewegungen sind. Mittels komplexer Algorithmen erlernt die Maschine, die Signale und Muster zu klassifizieren und zu verstärken, so dass sie einer Prothesenbewegung zugeordnet werden können.

Was sind aus ihrer Sicht die Vorteile dieser Technologie?

Der große Vorteil liegt insgesamt darin, dass die Prothese vom Anwender lernt, und nicht wie bisher der Anwender lernen muss, wie eine Prothese funktioniert oder sich der Funktionsweise der Prothese anpassen muss. Dadurch, dass die Myo Plus Prothesensteuerung mehr Signale als konventionelle Systeme aufnehmen und verarbeiten kann, können von der Prothese mehr Handbewegungen und Funktionen gedankengenau abgebildet werden. Die Prothese kann so schneller, präziser und intuitiver gesteuert werden. Ich muss nicht mehr hin- und herschalten oder mich durch Kokontraktionen bemühen, andere Bewegungen zu generieren. Die Handhabung der Prothese ist so noch besser für den individuellen Alltag der Patienten geeignet, wodurch die Akzeptanz der Prothese durch ihren Träger steigt.

Sie erwähnten gerade die Akzeptanz der Prothese durch den Anwender. Welche Rolle spielt das aus sozioökonomischer Sicht?

Wenn die Bewegungen, die gedacht werden, besser von der Prothese umgesetzt werden, gewinnen die Anwender mehr Sicherheit im Alltag. Mehr Sicherheit und Selbstvertrauen in der Handhabung führt zu einer besseren Reintegration ins soziale und berufliche Leben. Gerade bei Arbeitsunfällen erwarte ich eine deutliche Verbesserung im Hinblick auf die Rückführung ins Arbeitsleben und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit.

Wie erkennen Arzt und Orthopädietechniker, dass eine Versorgung mit der Myo Plus Mustererkennung und der intuitiven Prothesensteuerung erfolgreich ist?

Bei einem ersten Training wird dem Patienten eine Manschette mit acht Elektroden am Unterarm angelegt. Eine App (verfügbar für Android- und Apple-Betriebssysteme) visualisiert die Bewegungsmuster der gedachten Handbewegungen und -funktionen. Die Visualisierung hilft dem Patienten zu trainieren um klare und voneinander abgegrenzte Muster zu generieren. Innerhalb von etwa 30 bis 45 Minuten können Arzt und Orthopädietechniker so abschätzen, ob die Versorgung erfolgreich sein wird.

Und was können Patienten dafür tun, die Prothese noch besser zu steuern?

Mit der App können Patienten die Steuerung selbst nachkalibrieren. Sie können Bewegungsmuster besser eintrainieren, verfeinern und dann speichern. Das macht Sinn, denn die Situation bei der Erstanpassung unterscheidet sich oft von der individuellen Situation zu Hause oder den Anforderungsprofilen des Arbeitsplatzes. Je definierter die Bewegungsmuster erzeugt werden, desto besser funktioniert die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine.

Wie viele Patienten sind im Schnitt in der Lage, solche Muster zu generieren?

Im Prinzip sind das fast alle Patienten. Auch diejenigen, deren Amputation Jahre zurückliegt, können die Funktionsmuster ihrer Phantomhand noch abrufen. Man kann also nicht pauschalisieren und sagen: Jemand, der vor 20 Jahren amputiert wurde, ist nicht mehr in der Lage dies zu erlernen, oder jemand, der 15 Jahre eine konventionelle Prothese getragen hat, eignet sich nicht, da er sich schon zu lange an seine konventionelle Prothese gewöhnt hat.

Kommt die Myo Plus Prothesensteuerung denn auch für Amputierte mit sogenannten anlagebedingten Störungen in Frage?

Es muss sicherlich noch stärker erforscht werden, ob Patienten mit sogenannten anlagebedingten Störungen mit einer ‚gedankengesteuerten‘ Prothese zurechtkommen. Ich denke aber, dass das auch für Patienten erlernbar ist, bei denen die Anlage des jeweiligen Armes fehlt, da diese ja auch mit bisherigen Prothesen zurechtkommen. Wenn die Patienten sehen, welche Möglichkeiten sie im Vergleich zu konventionellen Steuerungen haben und wie gut sie mit visueller Unterstützung die Handhabung trainieren können, dann werden sie die neue Technologie wollen. Abschließend kann man diese Frage aber noch nicht beantworten.
Eine Amputation ist ein bedeutender Einschnitt in das Leben der Patienten.

Wie bereiten Sie die Anwender auf das Tragen einer Prothese vor?

Für die Patienten ist es natürlich eine Katastrophe, wenn sie erfahren, dass wir ihnen eine Hand oder Teile ihres Armes amputieren müssen. Zum einen umfasst das das äußere Erscheinungsbild, zum anderen natürlich die Funktionsfähigkeit und damit verbundene Sorgen wie Selbständigkeit im Alltag oder den Verlust des Arbeitsplatzes. Ebenso dürfen Phantomschmerzen die nach einer Amputation auftreten können nicht vernachlässigt werden. Wichtig ist hier vor allem der Dialog mit den Betroffenen. Man muss sich in die Patienten hineinversetzen und ihnen Lösungsansätze und den Weg dazu aufzeigen. Mit hervorragenden Technologien können wir heute ja viele Funktionen bestmöglich nachahmen. Das bringt einen Großteil der Lebensqualität zurück. Sobald feststeht, dass amputiert wird, schauen wir interdisziplinär – also Arzt, Orthopädietechniker, Therapeut und Patient – wie die ideale Versorgung aussehen sollte, um das zu leisten.

Laut der Deutschen Schmerzgesellschaft nehmen etwa 60% - 80% der Amputierten Schmerzen im amputierten Körperteil wahr (1). Kann eine Prothesensteuerung auch dabei helfen Phantomschmerzen zu minimieren?

In der klinischen Praxis sehen wir sehr häufig, dass eine Vielzahl von Patienten unter Phantomschmerzen leidet. Das wirkt sich neben der Schmerzbelastung zusätzlich natürlich auch auf die Nutzung ihrer Prothese aus. In unserer Studie konnten wir beobachten, dass wir den Betroffenen mit Myo Plus und Mustererkennung eine gewisse „Normalität“ durch funktionelle Rekonstruktion ihrer Gliedmaße zurückgeben konnten und diese Rückmeldung vereinfach gesagt auch so im Gehirn wahrgenommen wird, dass dadurch Phantomschmerzen gelindert und reduziert wurden. Dies ist sicherlich ein weiterer interessanter Aspekt der noch ausführlicher wissenschaftlich aufgearbeitet werden muss.

Quellen
(1) Deutsche Schmerzgesellschaft (2012). Phantomschmerz. Letzter Zugriff am 10. August 2018: https://www.dgss.org/patienteninformationen/schmerzerkrankungen/phantomschmerz/